Zu Hilfe!

Die Augen des Bettlers sahen aus wie hellblau-schillernde Muscheln. Diese pralle kleine Südsee-Sorte, mit dem Schlitz in der Mitte. Die Nase war ein verkrumpelter alter Ballon, brombeerrot. Und was lugten da für Schnüre unter der speckig glänzenden Mütze hervor? Verfilzte Wolle mit nasse Algen vermischt? An seiner Kleidung klebte etwas Braunes. Erde, Blumenerde vielleicht, hoffte ich. Die andere, wahrscheinlichere Verschmutzungsursache ausblendend.

„Komm, lass uns einen anderen Geldautomaten suchen“, sagte meine kleine Tochter, mit schreckensgeweiteten Augen. „Ich will nicht an dem vorbei, der sieht sooooo schlimm aus, das tut mir im Bauch weh.“ Stimmt, auch ich hatte bei einem ersten scheuen Seitenblick auf den Penner ein Ziehen in der Magengegend bemerkt, einen kleinen Aufzug, der vom Solarplexus zum Bauchnabel herabsauste. Der Mann war anscheinend frisch zusammengeschlagen worden. Sein Gesicht war blutunterlaufen, und er starrte vor Dreck, wie ich es noch nie gesehen hatte.

„Dem geben wir jetzt etwas“, erklärte ich entschlossen. „Ich hab neulich in der Zeitung gelesen, dass man denen Geld geben soll, die am schlimmsten aussehen, weil denen keiner mehr etwas gibt.“

Als wir uns dem Vorraum der Sparkasse näherten, nahmen wir einen infernalischen Gestank wahr. Wie kam mir denn jetzt, ganz unsinnig, das Wort Laktoseunverträglichkeit in den Sinn?

„Ich bleib draußen. Ich bleibe hier vor der Bank stehen. Nein, ich kann hier nicht draußen bleiben, ich habe Angst“, klagte mir meine Tochter aus dem Herzen. Mir ging es genauso. In einem Merkblatt unsere Schule waren wir ein paar Tage zuvor über das Auftauchen von Krätze informiert worden. Wo, wenn nicht hier sollte man sich diese Milben einfangen, dachte ich, beim Blick auf seine schwarz verkrustete Handflächen. Wir atmeten tief durch, und ich warf die zwei Euro im Dauerlauf neben den Mann, auf den kleinen Stehtisch im Windfang zum Schalterraum. Sein „Danke“ hinter unseren Rücken klang aufrichtig begeistert.

Seit ein paar Wochen will mein Kind ein blondes Mädchen im Alter ihrer großen Schwester retten. Sie liegt in der Unterführung vor dem Durchgang zu den S-Bahn-Gleisen an der Schlüterstrasse. Das Mädchen schläft viel. Tief und fest –ob um 12 Uhr mittags oder siebzehn Uhr nachmittags, in einem dünnen Schlafsack und im Arm ihres Freundes. Der Macker ist schon ziemlich ramponiert. Bei dem Mädchen wäre noch was drin. Nur wie hilft man? Und kann man das überhaupt, helfen? Hier wurden wir den nächsten Euro los.Er plumpste in die leere Toffifee-Verpackung, das ungleiche Paar ratzte im Nieselregen reglos weiter.

Kurz darauf, in der S-Bahn vom Savigny-Platz nach Mitte, trafen wir den Kai. Manchmal heißt der Kai auch Tristan, Thomas oder Mike. Gemeinsam haben die Jungs, dass sie nicht stören wollen, wie sie sagen, und es dann doch tun –  ganz gewaltig sogar. Am enervierendsten ist der leiernde Tonfall, in dem sie die Straßenzeitung und in drei, vier Sätzen auch ihr Schicksal an die Mitreisenden bringen wollen. Seit einiger Zeit bitten sie auch um etwas zu essen oder zu trinken und sie scheinen sich tatsächlich über eine Leberwurststulle oder ein Snickers zu freuen. Am Ende danken sie allen Leuten, die auf dem Weg in ihr „warmes Zuhause“ sind.

„Mama, mir tun diese Männer so leid“, sagt meine kleine Tochter. Sie scheint wie ein Katalysator für Mitgefühl zu wirken, denn kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, öffneten sich die Brieftaschen unserer Banknachbarn. Und auch wir gaben wieder zwei Euro, kleiner hatten wir’s nicht.

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Obdachlosen in Berlin von zweitausend auf zehntausend gestiegen, heißt es. Bei einer Stadtdurchquerung kommt einem diese Zahl viel zu gering vor. Die Dunkelziffer sei erheblich höher, sagt der Leiter der Bahnhofsmission am Zoo, wo gerade eine öffentliche Dusche eingerichtet wurde. Die Schule meiner Tochter startete anlässlich der Einweihung eine Hilfsaktion. Bei den Teenager-Freunden ihrer Schwester sorgte die Aktion „Unterhosen für St.Martin“ für große Erheiterung. Bei Woolworth kaufte ich sechs Herrenunterhosen, Feinripp mit Eingriff, in S, M und L. Die Bilder der männlichen Unterleiber musste ich aus den Verpackungen entfernen. Das verstand ich sofort. „Mama, das ist so peinlich, ich muss dann immer an die Popos der Obdachlosen denken.“

„Wenn du mit deinem Kind unterwegs bist, musst du jedem Bettler etwas geben“, hatte mir meine Freundin Sabine vor zwanzig Jahren ins Gewissen geredet. Ihre Mutter habe in den sechziger Jahren in Minden auch allen Obdachlosen etwas Kleingeld gespendet. Man sei schließlich Vorbild, und Erziehung bestünde hauptsächlich aus vorbildhaftem Benehmen.

Die Fahrt durch Berlin kostets mich am Dienstag neun Euro an Hilfsleistungen. Ob das Geld etwas genützt hat? Der Ausspruch Blaise Pascals, das ganze Unglück der Menschen rühre allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen, mag in diesem Zusammenhang unpassend klingen – immerhin braucht man erst einmal eins.

Doch ist dieser Gedanke immer wieder ein guter Grund, mehr zu Hause zu bleiben – wo man Überweisungsträger für die Bahnhofsmission ausfüllen kann, dankbar und voll Freude darüber, dass man noch ein Zuhause hat, sogar ein warmes.

 

 

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