Mein Anwalt, ein Stück Berliner Mauer

Neulich rief ich bei meinem Anwalt an, ich wollte eine Urkunde beglaubigen lassen. „Hallo, hier ist Eva“, sagte ich fröhlich, weil ich die nette Sekretärin schon seit Jahrzehnten kenne. „Kann ich mal den Jochen sprechen?“
Es entstand eine längere Pause, ich hörte die Dame am anderen Ende der Leitung tief Luft holen und dann sagte sie: „Wissen Sie es noch gar nicht, der Jochen ist tot.“

„Das glaube ich nicht“, sagte ich, obwohl ich keine Sekunde an ihrer Aussage zweifelte. „Die Besten trifft es immer zuerst“, sagte die Sekretärin.

Jochen war wie ein übriggebliebenes, graues Bruchstück der Berliner Mauer, obwohl er eigentlich in Lüdenscheid geboren war. Er hatte in Westberlin studiert und dort Ende der Siebziger, zusammen mit anderen jungen, sehr linken Anwaltskollegen den ersten „Anwalts-Laden“ in Moabit eröffnet. Damals trug er Tigerhosen und einen schwarz lackierten kleinen Fingernagel. Die Mandanten durften allerlei Probleme mit dem Rechtsstaat haben, nur keine Hausbesitzer, Arbeitgeber und Kinderschänder sein. Die Sache ging nicht lange gut, die Kohle war knapp und der Kollektivgedanke leierte sich aus.

Mitte der achtziger Jahre landete Jochen mit seiner Kanzlei dann in einer riesigen, halb leeren Altbauwohnung über der legendären Osteria No. 1 in Kreuzberg, wo er jeden Tag zu Mittag aß, das schwarze Festnetztelefon vor sich auf der Tischdecke.

Zu Jochens Klientel gehörten Kleinkriminelle, Drogendealer, Pommesbuden-Besitzer, Betreiber von Videotheken und Spielsalons. Wenn ich ihn besuchte, erzählte er mir die skurrilsten Geschichten aus dem Millieu, immer wieder selbst hocherfreut über die guten Stories, die das Leben von ganz alleine schrieb. Eine seiner am häufigsten geäußerten Ansichten war: „Die Menschen werden immer dümmer.“ Diese Feststellung hatte bei ihm nichts opihaftes, er konnte sie sofort belegen. Er schleppte Akten und Schriftsätze herbei, die von Grammatik- und Rechtschreibfehlern nur so wimmelten. „Dafür haben wir die studieren lassen“, sagte er dann, resigniert vor allem über die Kollegen.

Jochen rauchte, wie ich nie jemanden habe rauchen gesehen – filterlose Camel, Katte. „Nur nicht unter der Dusche“, sagte er über sich selbst. In den vier Meter hohen Räumen seiner Kanzlei standen ganzjährig blaue Nebelschwaden, bis zum dunkelgelben Stucksaum.

War gerade nicht viel zu tun, baute sich Jochen einen Joint und löste Kreuzworträtsel. Wir haben mal eine ganzen Vormittag gemeinsam ein vertracktes Schwedenrätsel zu lösen versucht. Als ich ging, hatte Jochen noch lange nicht aufgegeben.

Die beiden Prozesse, die ich mit seiner Hilfe führen wollte, habe ich verloren. Sogar die Verhandlung wegen eines Auffahrunfalls, bei dem mir ein Laster auf einem Bahnübergang mit voller Wucht hinten drauf rauschte, was ja schon eine Leistung ist. „Sie glauben wohl, wenn’s hinten knallt, gibt’s vorne Geld“, hatte der Richter zu mir gesagt. Jochen hatte dazu nicht so viel zu sagen. Und da ihm an diesem Tag ein oberer Schneidezahn fehlte, war ich darüber auch nicht allzu traurig.

Jochens Leben war streng getaktet. Jeder Wochentag verlief wie der vorherige, Ausnahmen konnte er nicht leiden. Jeden Samstag schaute er Fußball, und jeden Sonntag warf er einen Tripp ein. Urlaub machte er nie. Er liebte die italienische Landschaft und das Essen – Wein, überhaupt Alkohol trank er nicht – fuhr aber nicht mehr „in dieses korrupte Scheißland.“

Irgendwann arbeitete Jochen nur noch als Notar. Zu dieser Zeit gab es plötzlich Frischluft in der Kanzlei. Die Pumpe und die Lunge machten ihm Ärger. Vor den frisch gestrichenen weißen Wänden seines Büros wirkte er selber vom Leben ziemlich angegilbt. Über das Kranksein redete er nicht viel. Und als es ihm wieder ein bisschen besser ging, fing er natürlich wieder an zu rauchen. Filterlose Zigaretten gab es da schon nicht mehr zu kaufen, also brach er die Filter ab.

Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er einen eleganten cremefarbenen Dreiteiler aus Leinen und einen Borsalino. Aus beiden Hosentaschen kramte er bunte Geldrollen hervor, hellgrüne und auch lila Scheine, mit orangen Gummibändern zusammengehalten. „Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Geld.“ Darüber lachte er, wie über einen sehr originellen Witz. „Ich würde dir gern ein Mineralwasser oder einen Kaffee anbieten. Aber das hab ich alles nicht mehr da. Die Leute bringen heutzutage doch, wo sie gehen und stehen ihre Kaffeebecher und Plastikflaschen selber mit.“

Die einen haben Fernweh, die anderen Anfälle von Sehnsucht nach der Vergangenheit, die man wohl Nostalgie nennt. Ich will nicht in den Regenwald, aber gern noch einmal im Dschungel in der Nürnberger Straße tanzen. Jochen fehlt mir, wie der graue Putz mit den Einschusslöchern an den Brandwänden Kreuzbergs vor dem Mauerfall. Heute ist alles hübscher, aber damals hielten einem die Punks noch die Tür auf.

heiner funken

vor 1 Stunde antworten

ach das trifft mich hart und, trotz allem auch unvorbereitet. der jochen unverwechselbar, eigensinnig und liebenswürdig! ja er verkörperte das mir bekannte west- berlin wie kaum ein zweiter. die nachricht von seinem tod trifft mich, nur die vermalledeite todesnachricht von meinem kumpel peter glückstein kommt da noch ran. lieber jochen, viel spaß und große einsichten auf deinem jetzigen trip. p.s. liebe eva, ich würde auch gerne noch einmal im dschungel in der nürnberger tanzen und auch die einschusslöcher in den berliner fassaden vermisse ich, die passten so gut zu unserem berlin. das gibt es nicht mehr, da ist ein tanz im regenwald doch keine schlechte variante.

Eine Antwort zum Kommentar:

Eva Sichelschmidt

vor 4 Stunden

Lieber Heiner Funken, eine späte Antwort an Sie, bitte um Nachsicht… Ja, Peters Tod war in der Tat noch so ein Schlag. Man hat das Gefühl Menschen aus diesem Material werden nicht mehr gemacht. So intensiv soll nicht mehr gelebet werden. Aber nur keine Nostalgie aufkommen lassen, das macht unsexy – es gibt ja noch uns. Wir machen Volldampf weiter. Schöne Grüße aus Rom ES

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