Geburtstag in der Bahnhofsmission

Den Eingang der Berliner Bahnhofsmission mussten wir nicht lange suchen. Man sah schon von weitem, zwischen zwei Baustellen, die lange Schlange der Menschen, die an diesem Nachmittag auf die Essensausgabe warteten. Riechen kann man diesen Ort auch.

In der gleißenden Sonne standen sie, die einen ungeduldig, die anderen apathisch – ein Mann lag halbnackt, schlafend in einem verdreckten Schlafsack rechts neben der Eingangstür. „Ich möchte nur kurz einen Einkaufsgutschein loswerden“, sagte ich zu einer lächelnden Dame im blauen Bahnhofmissions-Kittel, als ich mich durch die Menge gedrängelt hatte. „Kommense doch rein.“ Die freundliche Mitarbeiterin winkte mir zu und ich darauf meine Töchter herbei, die es vorgezogen hatten, in gebührender Entfernung auf mich zu warten.

„Was ist das? Ich will auch was haben“, rief eine junge Frau laut gellend aus der Menge, die den Schein in meiner Hand entdeckt hatte.

„Die wollen dort nicht rein“, sagte meine große Tochter und zeigte auf ihre Freundin und unsere Jüngste, die ziemlich verängstig dreinschaute. Wir landeten dennoch in der Bahnhofsmission, und kurz darauf standen wir im Büro des Leiters, Dieter Puhl.

Puhl ist ein in der Sonne der Barmherzigkeit gegerbter Vollblut- Sozialarbeiter. Er fragt nicht woher einer kommt, und wohin er geht, interessiert ihn nicht. Er hat eine Mission, und die reicht noch weit über den Bahnhof Zoo hinaus, das merkt man sofort.

Journalisten findet er gut, sagt er. Ich bekomme keine Gelegenheit, den Etikettenschwindel richtigzustellen, denn er „jumpt“, wie unsere Freundin Emma das nennt, sofort in eine Geschichte. Wie kommt der Mensch auf die Straße? Das will er gern erklären. „Was würdest du tun, wenn deine Wohnung abgebrannt wäre?“ Die Kinder antworten ihm artig. Wir sitzen wohlerzogen vor ihm, wie die Hühner auf der Stange, und geben die gewünschten Antworten – alles, was er sagt, hat er schon tausende Male gesagt, alle Antworten, die wir geben, kennt er im Voraus. Und obwohl man das leicht unbehagliche Gefühl hat, in eine Lehrveranstaltung geraten zu sein, ist seine Art zu erzählen ein absoluter Gewinn. Man fühlt sich in seiner Anwesenheit wohl, ohne allzu persönlich gemeint zu sein.

Was paradox klingt, ist gleichsam das Geheimnis seiner Arbeit. Er nimmt die Menschen an, ohne sie an sich zu ziehen. Er verbreitet eine unverbindliche Verbindlichkeit, mit der Option auf Intensivierung bei Bedarf.

Schon sind wir seine Fans – und bekommen sogleich noch ein Geschenk. Einen Bildband der Berliner Mogenpost. „Unsichtbar“ so der Titel des Buches mit den Porträt-Fotografien obdachloser Menschen.

Gerade noch haben wir in der Irving Penn Ausstellung im C/O Berlin, einer Galerie auf der gegenüberliegenden Seite das Bahnhofs gestanden und Fotos von Marlene Dietrich und Pablo Picasso bestaunt, nun schauen wir in das ramponierte Gesicht einer alten Frau.

Immer so grünen Schnodder hätte die an der Nase gehabt und auch nicht gut gerochen, denn sie habe „gedröppelt“. Das täten alte Frauen manchmal, erklärt er meiner jüngsten Tochter, die unschlüssig ist, welcher Gesichtsausdruck zu dieser Geschichte wohl der passende ist. Zusammen mit ihrem ebenfalls ziemlich fertigen Freund sei sie Stammgast in der Bahnhofsmission gewesen, nicht selten knallvoll, ziemlich besoffen.

Keinen Pass habe sie gehabt, jahrelang schon nicht mehr. Doch der Mensch existiert nicht ohne Papiere und beim Amt etwas beantragen kann man auf diese Weise auch nicht. Hätte man ihr jedoch zehn Euro für die Passbilder in die Hand gedrückt, wäre sie mit ihrem Rollator sofort zum Supermarkt Ulrich gerollert und hätte die Pinunsen in zwei Flaschen Wodka investiert. Also musste man sie unter den Arm nehmen und überall hin begleiten.

Eine Geschichte mit Happy-End. Denn Puhl findet für das Paar sogar noch eine Stelle in einer Senioren-Residenz in Spandau. Da wohnen sie nun. Er bekommt noch vier Bier am Tag zugeteilt, sie ist inzwischen trocken – fast. Vor Dankbarkeit platzen täten sie nämlich dennoch nicht. Scheiße fänden sie es dort, daher würden sie auch von Zeit zu Zeit ausbüxen, sich volllaufen lassen und kämen drei Tage später wieder in der Bahnhofsmission an. „Dann waschen wir sie, rufen bei dem Seniorenstift an, machen gut Wetter bei der Leitung und fahren sie wieder zurück nach Spandau.“

Es sind Geschichten wie diese, die zuversichtlich stimmen. Es gibt auch andere, wie die einer jungen Frau, die schief lächelnd ihren Schwangerschaftsbauch präsentiert. Für Puhl, der jahrelang in Kinderheimen gearbeitet hat, das traurigste Foto im Buch. Er kennt die Spirale aus eigener traumatischer Erfahrung, die direkt auf den Nachwuchs übergeht. Dass dies nicht die letzte Schwangerschaft des Mädchens sein wird, scheint vorprogrammiert zu sein.

Einsamkeit sei die Hauptursache dafür, auf der Straße zu landen. „Warum sitzt der Mann da?“, wäre der Titel für das Kinderbuch, dass Puhl schreiben möchte. Man hofft, dass er bald die Gelegenheit dazu bekommt.

Nun bietet Puhl noch einen Rundgang durch die Bahnhofsmission an – unmöglich abzulehnen. Nur ist es eben auch der vierundzwanzigste Geburtstag meiner großen Tochter, und eigentlich sollten wir längst bei Kaffee und Kuchen sitzen. Doch inzwischen wollen alle bleiben und sehen, wie die Arbeit hier läuft. Als Puhl den Essensraum betritt, wallt Begeisterung auf. Mehrere Menschen springen von ihren Stühlen, eine ältere Dame, die Puhl beim Vornamen kennt, wünscht ihm nachträglich Frohe Ostern, er nimmt sie im Vorbeigehen in den Arm und wünscht seinerseits noch einen Guten Rutsch, nachträglich.

An der Essensausgabe stehen kleine runde Behälter, die mir bekannt vorkommen. In diesen Döschen trage ich manchmal den Landrahm und die Mandel-Oliven einer Berliner Feinkostkette heim. „Genau“, sagt Puhl, die sei der Hauptlieferant der Bahnhofsmission. Was sonst weggeworfen würde, machte hier die Bedürftigen satt.
„Wir verzögern das Sterben mit Erdbeer-Törtchen“, so Puhl.

Dass es in der Bahnhofsmission aber nur um das Lindern von Hunger und Not, nicht aber um langanhaltende Veränderungen an den Strukturen der Hilfsprogramme geht, will er nicht hinnehmen. Längst schon engagiert er sich in »nachhaltigen« Sozial-Projekten.

Puhl ist ein begnadeter Netzwerker. Seine Posts auf Facebook haben häufig hunderte von Likes. Mal postet der bekennende Christ Bibelsprüche, mal zu Herzen gehende Anekdoten aus dem Alltag am Zoo. Mit diversen Funktionären und Politikern ist er per Du. So ist es ihm gelungen, weitere Räumlichkeiten für die Mission zu ergattern und ein Hygiene-Center einzurichten. Infolgedessen wird aber immer mehr Geld benötigt, denn nun sind auch die Lohnkosten gestiegen.

Wir werfen noch einen Blick in die blitzsauberen Badekabinen, besichtigen die Räume, in denen Haare und Nägel geschnitten werden. Gar nicht nach Pipi riecht es hier, darauf ist Puhl ganz besonders stolz. Nach jedem Badenden wird saubergemacht. So reinlich ist es nicht einmal in den Toilettenräumen auf den teuren Campingplätzen an der Ostsee.

Und schwups, stehen wir auch schon wieder in der Sonne. Nun sollten wir aber mal schön Geburtstag feiern, erklärt Puhl fröhlich und ist schon wieder halb auf dem Weg zu seinem Büro. Die Arbeit ruft.

Etwas überrascht bin ich von mir, dass ich, die jedem Körperkontakt mit Fremden gern aus dem Weg geht, Dieter Puhl doch noch schnell umarmen möchte.

 

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