„Der lüsterne Frauenarzt aus Rovigo“ oder „Was der Lektorin zum Opfer fiel“
Marlies erster Hausbesuch für Artficial Artbay führte sie in den Norden Italiens, nach Rovigo. Ein Frauenarzt hatte sich bei ihr gemeldet und bot eine atemberaubende Sammlung an. Von Alberto Burris klumpig schwarzen Teercollagen bis zu Tafelbildern Piero della Francescas – seine Schätze sollten über fünfhundert Jahre Kunstgeschichte umfassen, unglaublich! Nein, detaillierte Fotos könne er leider nicht schicken, sie solle sich die Werke vor Ort anschauen. „Per i motivi di privacy“.
Marlies packte Anni einen kleinen Koffer und schickte sie mit Pia und Paola in die Sommerfrische, an die Adriaküste bei Jesolo. Die drei zogen mit Klappstühlen, Bademänteln, Kühlboxen und dem Proviant einer ganzen Schulklasse vergnügt schnatternd ab.
Sie hatte noch eine Stunde Zeit, als sie sich vor dem Bahnhof von Rovigo in eine Bar setzte. Sie bestellte ein Glas Weißwein und trank dann ein zweites, wobei der Kellner sie bei der Bestellung schon kritisch musterte. Die Deutschen! Tranken nach dem Essen Cappuccino und am helllichten Nachmittag Wein – Barbaren, was sonst.
„Buonasera Dottore Calvastano“. „Für dich: Giorgio“, eröffnete der rüstige Mittsechziger die Partie. Das Haar mit den Pfeffer und Salz Löckchen trug er nach hinten gegelt. Er riss die Beifahrertür seines schwarzen, tiefer gelegten Mittelklasse-Sportwagens auf, und machte dabei eine kurze Verbeugung.
In ungeheurem Tempo brausten sie durch die ödeste Stadt, die Marlies in Italien je untergekommen war. Graue Nachkriegsbauten entlang schnurgerader Ausfallstraßen, menschenleer, bis auf ein paar stumm vor sich hinstarrende Rentner am Straßenrand. Menschenskinder, war denn hier in den letzten fünfzig Jahren niemand auf die Idee gekommen, einen Sohn zu zeugen oder einen Baum zu pflanzen? Giorgio begann ohne Überleitung von seiner Sammlung zu schwärmen. An all diese großen Werke war er durch schieren Zufall geraten, auf Märkten und bei den Trödlern. Er schlug sich während der Fahrt mit der rechten Hand auf die Schulter – er sei nun einmal ein ein Glückskind.
Dann fragte er Marlies ab. Alter? Familienstand? Ausbildung? Sie schaute an sich herunter, ihr enges Kleid und die billigen Highheels, dann dieses würzige Rasierwasser des Dottore, die schwarzen Ledersitze – sie kam sich vor, als wäre sie von Escort-Service sie zur Unterhaltung, oder gar zur Entspannung dieses fremden, älteren Mannes vermittelt worden.
Sie verließen die Innenstadt und bogen in einen kurvenreichen, steil ansteigenden Feldweg ein. Gleich würde Marlies etwas Besonderes zu sehen bekommen, schwärmte der Gynäkologe.
Auffällige Herrenschmuck war ja immer so eine Sache, zumal bei älteren Semestern. Die Panzerkette auf der Silberwolle im Ausschnitt des Poloshirts und der Goldring am kleinen Finger – was war das? Eine schwüle Demonstration sexueller Virilität?
Bei der nächsten Haarnadelkurve ließ Giorgio kurz das Lenkrad los und rieb sich in Vorfreude auf das, was er Marlies gleich zeigen würde, begeistert die Hände. Seltsam nur, dass sich die Kunstsammlung nicht in seiner Wohnung, sondern in der Praxis befand, und diese wiederum in einem mehrstöckigen Neubau.
Eins unter null – vom den Ebenen der Tiefgarage gezählt. Der Lift brachte sie unter die Erde. Die Eingangstür war mit mehreren Panzerschlössern gesichert. Giorgio brauchte eine Ewigkeit, um sie nacheinander zu öffnen. Komischer Ort für eine Artzpraxis, dachte sie, aber das Messingschild „Studio Calvastano“ bezeugte, dass hier praktiziert wurde. Oder etwa nicht?
Vom stockfinsteren Flur aus geleitete er sie in das große, fensterlose Wartezimmer, das mit schweren dunkelbraunen Ledersesseln möbliert war. Auf dem gigantischen Glastisch in der Mitte des Raums lagen weder Magazine noch Zeitungen aus. Neben dem Schirmständer blinkten die bunten Lichter eines Miniatur-Weihnachtsbaums – Anfang August. Hier erlebte Marlies ihr erstes Wunder: Eine farbenprächtige Wandmalerei an der Stirnseite des Raums über den Clubsesseln. Giorgio zückte einen Zeigestock aus dem Schirmständer und begann kenntnisreich die phantastischen Details der „Beweinung Christie“ zu erläutern, ein Werk von Giotto. Sie war sprachlos. Das Bild auf der Raufasertapete erinnerte sie an naive Malereien aus den siebziger Jahre und auch an die Wandgestaltung einer Pizzeria in Berlin-Charlottenburg. Ein Meisterwerk, sagte Giorgio, nicht wahr? Oder was sie dazu sagen würde? – „Che bello!“
Er lotste Marlies in sein Sprechzimmer und legte ihr dabei sanft die Hand auf den Rücken. Er war einen Kopf kleiner als sie, wirkte dabei aber durchaus agil und unternehmungslustig. Leere Bücherregale, ein verstaubtes Trockenblumengesteck. Eine Artztpraxis wie diese, mit dicker brauner Auslegware, hatte Marlies noch nie gesehen. Sie nahm Platz vor dem Schreibtisch Platz, auf dem weder Stifte noch Rezeptblöcke oder gar Fachbücher lagen, nichts. Kein Licht fiel durch das schmale Kellerfenster unterhalb der Zimmerdecke. Nackte Vierzig-Wart-Birnen beleuchteten die Praxis. Der Doktor wippte hinter seinem Tisch in seinem Bürostuhl vor und zurück. Ihr Blick fiel auf den Gürtel seiner hellblaue Jeans. Den Hosenbund hatte er bis knapp unter die Brust hinauf gezogen, so dass sich der Hosenstall prall über seinem kleinen Kugelbauch spannte. Er fragte Marlies, ob sie etwas trinken wollte, machte aber keine Anstalten, das angebotene Wasser zu holen. Sie musste ihm jetzt absolutes Stillschweigen versprechen, zu allem was er ihr nun zeigen würde. Die Schätzung der Bilder dürfte nur unter strikter Geheimhaltung erfolgen. Er sähe sich nicht in der Lage, seine Bilder so zu sichern wie es ihrem Wert entspräche.
Die Spannung stieg. Denn es stellte sich heraus die Kunstwerke befanden sich im Untersuchungsraum. Wie früher in der Wohnung ihrer Mutter gingen hier die pastellfarbenen Streublümchen der Tapete nahtlos in den Gardinenstoff über. Marlies glaubte zunächst, in einem Schlafzimmer zu sein, bis sie den Gynäkologischen Stuhl in einer Zimmerecke erblickte. Ein chromblitzendes Museumsstück, mit gigantischen Stellschrauben und weit auseinander stehenden Beinschalen. In einem nierenförmigen Edelstahlbehältnis blitzen Zangen, Spatel und Hebel auf, die an kleine Schuhlöffel erinnerten. Dass diese Gegenstände unecht und wie lausige Requisiten wirkten, lag vor allem daran, dass es in den Räumen überhaupt nicht nach Desinfektion, sondern unangenehm stickig, ein wenig süßlich wie in einem Altersheim roch. In der Luft lag nicht die winzigste Spur von Äther, Alkohol oder scharfen Reinigungsmitteln.
Die Bilder hatte Giorgio, wie unterschiedlich große Dominosteine verschachtelt, an einen großen Heizkörper hinter dem Untersuchungsstuhl gelehnt. Schon aus der Entfernung erkannte Marlies, dass die sie alle das gleiche Farbspektrum aufwiesen, ähnlich dem, das Annis doppelbödiger Wasserfarbkasten hergab. Hin und wieder schien auch etwas Deckweiß verwendet worden zu sein. Die pausbäckige Madonna mit dem Schlafzimmerblick, angeblich ein Bellini, die etwas unordentlich gepinselten Rechtecke Mondrians, futuristisch Buntgezacktes von Giacomo Balla, die adipösen Pferde De Chiricos oder die schwermütig dreinblickende Dame mit dem Flaschenhals von Amedeo Modigliani strahlten alle dieselbe polychrome Frische aus. Die Rückseite der Leinwände waren jungfräulich weiß, das Kiefernholz der Rahmen hell und brandneu wie Zeichenbedarf.
Später hatte sie sich gefragt, ob sie damals eigentlich Angst verspürt hatte. Sie konnte sich nur daran erinnern, wie sie mit einem plötzlich aufsteigenden, das Zwerchfell bedrängenden Lachanfall gekämpft hatte, der in einem schmerzhaften Schluckauf endete. Sie war sich ihres schaupielerischen Talents nicht sicher gewesen, hatte es aber dann doch mit begeistertem Staunen versucht. Wie er denn um Himmels Willen nur an all diese Meisterwerke geraten sei? Jedes Bild hatte eine ganz eigene Geschichte. Lang und breit schilderte ihr jede einzelne, während sie fleißig fotografierte. Jedes Bild von vorn und von hinten, auch Ausschnitte und die Maße akribisch in ein Notizbuch eintrug. Von Dachbodenfunden erzählte er, von kleinen Hinterhofgalerien in der süditalienischen Provinz, von der generösen Erbtante, von Flohmärkten in der Bretagne. Expertisen? Giorgio lachte laut auf: Die Provenienz sei er selbst- Sammlung Dottore Giorgio Attila Salvio Calvastano.
So doof bin ich also, so doof sehe ich also aus, dachte Marlies entsetzt. Und dann nur noch daran, so schnell wie möglich aus dieser unterirdischen Praxis herauszukommen.
Ganz rechts hinter dem Stuhl hatte sich noch ein kleiner Tizian verhakt, eine rothaarige Magdalena mit Schmollmund und Wallehaar. Sie griff über den Stuhl hinweg, es gelang ihr aber nicht das Bild hinter der Rückenlehne hervorzuziehen. „Vai, vai“, Giorgio forderte sie auf, auch dieses Kleinod genau zu begutachten. Während sie auf allen Vieren unter den Stuhl kroch, hörte sie hinter sich die sonore Stimme des Frauenarztes: „Mamma mia, tu sei veramente una bella donna”.
Auf der Rückfahrt zum Bahnhof hatte Giorgio Musik angestellt. Ob sie die Band Coldplay möge. Dieser alte Sack hörte ihre Musik? Er drehte ziemlich laut auf. „When you try your best but you don’t succeed? When you get what you want but not what you need…” Das war Fix me Ralfs absolutes Lieblingslied. „Halt! Halten sie sofort an. Ich muss hier aussteigen“.
Der Arzt trat erschrocken auf die Bremse und hielt am Straßenrand der schnurgeraden Landtrasse an. „Was ist denn los?“, fragte er aufrichtig überrascht. Da hatte Marlies aber schon die Handtasche geschultert und war aus dem Auto gesprungen.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Weg so lang sein würde. Schon nach dem ersten Kilometer steckte sie die Pumps in ihre Tasche. An einem Kreisverkehr verlief sie sich. Als sie nach neun endlich am Bahnhof ankam, barfuß, mit wunden Fußsohlen, sah sie gerade noch, wie der letzten Zug in der Dunkelheit verschwand.
Die Nacht verbrachte sie in einem billigen, mit petrolfarbenem Plastik verschaltem Hotelzimmer, in dem sie die Schnapsfläschchen der Minibar leerte und dazu verbotenerweise rauchte, bei geschlossenem Fenster. Wodka, Campari, Aperol, Gin und weißer Rum – bis ihr schlecht wurde. Sie wankte zur Kloschüssel. steckte sich den Zeigefinger in den Hals, brachte es aber nicht fertig zu kotzen. Voll Selbstmitleid versuchte sich in den Schlaf zu heulen. Nichts gelang ihr, rein gar nichts. Aber es kamen keine Tränen, und auf den Schlaf musste sie bis zum Sonnenaufgang warten