Kacheln zählen
Am Freitag, dem 10. November 1989, sitzt in Berlin ein junger Mann mit einem Mädchen an einem Tisch im Café Adler am Check Point Charlie.
Stundenlang schauen sie an diesem Vormittag aus dem Fenster auf das Treiben, das sich am Grenzübergang abspielt. Langsam vorwärtsrollend, passiert die Kolonne der hellblauen, grauen und beigen Trabbis und Wartburgs die soeben geöffnete Grenze. Einige der Fahrer aus dem Osten hupen, Beifahrer winken aus den herunter- gekurbelten Fenstern. Sie werden von hysterischen Westdeutschen begrüßt, die ihnen Bananen unter die Scheibenwischer stecken und Chrysanthemen-Sträuße durch die Fenster stopfen. Fremde Menschen fallen sich in die Arme. Wer nicht lacht, der weint. Wahnsinn ist das Wort der Stunde, immer wieder hört man den lauten Schrei Wahnsinn. Noch herrscht eine Art entfesselter Endzeitstimmung, obwohl schon von Neuanfang die Rede ist. Auch in der Sprache sind die Grenzen nun fließend. Auf der Straße wird getanzt. Die Situation ist irreal, schwer zu fassen, kaum zu glauben. Manche, die den Übergang zu Fuß passieren, schauen sich unsicher um, als rechneten sie damit, dass die Mauer hinter ihnen wieder dicht gemacht wird.
„Ich könnte kotzen“, sagt der junge Mann, der sonst wenig sagt. Angeekelt blickt er auf die Menschenmasse. Hin und wieder kommentiert er sarkastisch die Verbrüderungsszenen. „Wie unangenehm das hier menschelt.“ „Aber freust du dich denn gar nicht? Jetzt kannst du doch deine Familie wiedersehen. Deine Eltern, deinen Bruder besuchen und all deine Lieben können dich treffen.“ „Das ist es ja gerade…“
Die beiden Kaffeehausbesucher sind ein ungleiches Paar. Das Mädchen ist im Sommer aus dem Ruhrgebiet nach West-Berlin aufgebrochen. Der junge Mann aus Leipzig, ein Jahr zuvor, aufgrund staatsfeindlichen Verhaltens aus der DDR ausgebürgert worden. Da war er gerade zweiundzwanzig. Sie haben sich in der Schule kennengelernt, in der sie ihr Fachabitur nachholen.
An diesem Morgen stand eine Deutsch-Klausur über Christa Wolfs Roman Kassandra an. Sie waren die einzigen aus dieser Klasse, die an diesem Tag in der Schule angetreten waren. Das Mädchen hatte den Fall der Mauer verschlafen und sich erst auf dem Schulweg über die vollen Straßen und die vielen kleinen stinkenden Autos gewundert.
In der DDR ist sie nie gewesen, noch nicht einmal in Ost-Berlin, auch hatte sie keine Verwandte im Osten. Die Titelzeile des BILD-Zeitungs-Aufstellers vor einem Kiosk hatte sie zunächst für eine Metapher gehalten. „Die Mauer ist gefallen.“ Welche Mauer? -die in den Köpfen?
Der junge Mann hatte den geschichtsträchtigen Moment im Kumpelnest erlebt, einer beliebten Anlaufstelle für schillernde Nachtgestalten. „Ich hätte aber nicht gedacht, die Deutscharbeit deshalb ausfällt.“ Nennen wir ihn S. Als das Mädchen S. kennenlernt, ist schnell klar, dass dieser Mensch aus einer anderen Welt kommt. Das er aus einem anderen Material gemacht ist als die jungen Männer, denen sie im Westen bisher begegnet ist.
In seiner Kindheit gab es keine angewärmten Badehandtücher, in die Mami ihn wickelte, bevor sie ihm vom Fernseher bei „Wetten dass“ Nutella-Brote servierte. S. ist sechs Jahre alt, da beginnt seine Laufbahn als Leistunsschwimmer. Während er gerade im Schwimmverein lernt, sich über Wasser zu halten, tauchen am Beckenrand Männer auf, die ihn aus der Gruppe der Kinder auswählen. In einem Hinterzimmer wird S. vermessen: Becken- und Brustumfang, Hand- und Fußknochen. Prognosen zum künftigen Körperbau und der zu erwartenden Ausdauer werden gestellt. S. scheint die richtigen Vorraussetzungen mitzubringen. Seine Eltern sind damit einverstanden, dass ihr Sohn von nun an ein tägliches intensives Schwimmtraining absolviert. Mit zehn Jahren besucht er die KJS, die Kinder- und Jugendsportschule in Leipzig. Er hat Glück – da er in der Nachbarschaft lebt, muss er nicht im Internat einziehen.
Jeden Morgen brät ihm die Mutter nun in aller Hergottsfrühe ein Schweinesteak. Um sieben beginnt das Training. Zwei Stunden, acht Kilometer Bahnschwimmen. Danach gibt es vier Stunden Unterricht, eine Mittagspause, dann Ausdauersport und Muskelaufbau, ab sechzehn Uhr erneut, zwei Stunden Schwimmen, die Kilometeranzahl stieg von Jahr zu Jahr, bis auf acht Kilometer. S. hat keinerlei Sozialkontakte. Zeit zum Spielen gibt es nicht. Die Kindheit wurde ersatzlos eingetauscht gegen den Schwimmsport. Die gleichaltrigen Jungs, die mit ihm trainieren, sind am Abend genauso erschöpft wie er. Um sieben, am Abend ist man zu Hause. In der Pubertät später ist an Redevous mit Mädchen nicht zu denken, keine Zeit, keine Gelegenheiten zum Kennenlernen. Dabei hatten die Kinder anfänglich noch in geschlechtergemischten Gruppen trainiert. Kristin Otto zum Beispiel, heute eine bekannte Sportjournalistin, gehörte am Anfang zur selben Mannschaft. Mädchen machen im Schwimmsport früher und schneller Karriere. Ihr Leistungshöhepunkt liegt weit vor dem der männlichen Schwimmer. Sie sind gerade mal dreizehn, vierzehn Jahre alt, wenn sie an den Jungs vorbeiziehen. Die männlichen Olympioniken wiederum laufen mit Anfang Zwanzig erst zur Höchstform auf. S.ist als Schwimmer erfolgreich. Während seine Trainingsgruppe sich immer mehr reduziert – stetig wird aussortiert – bleibt er dabei.1984 wird er mit der Lagenstaffel über 400 Meter DDR- Meister. Die nächste Etappe ist, es auf der Einzelstrecke zu schaffen. Jeden Morgen werden vor dem Training Tabletten ausgegeben. S. schluckt alle Pillen, ohne sich weiter Gedanken zu machen.
Auf Nachfrage der Eltern, was genau da verabreicht wird, reagiert die Schulleitung knapp. Die Vergabe von Laktat, Vitamin- und Aufbaupräparaten obläge allein den Verantwortlichen, so die Entgegnung. Die Jugendlichen bekommen vor der täglichen Trainingseinheit eine dubiose Quarkspeise vorgesetzt. Am Beckenrand wird dann der Säure- und Sauerstoffgehalt im Blut gemessen. Es gelingt S. seine Leistung stetig zu steigern. Er gilt als Hoffnungsträger.
Die richtigen physiologischen Voraussetzungen sind in jeder Sportart die eine Sache – eiserne Selbstdisziplin, der Wille zum Erfolg, Zähigkeit und Ausdauer das Andere.
Einsam ist es in den Stunden im Wasser. Der Ablauf beim Schwimmsport ist immer der gleiche. Kacheln zählen, Meter machen. Stille – tagein, tagaus, punktiert nur von den Stimmen der Einpeitscher. Das Training wird von einer Stromtherapie begleitet, einzelne Muskelpartien sollen stimuliert werden. Reizstrom – Schwellstrom. Hin und wieder werden dabei Hautpartien großflächig verbrannt. Aber Jammern gilt nicht.
Die Schule bietet nur wenig Abwechslung. Alle Fächer die nicht zwingend zum rudimentären Allgemeinwissen gehören, fallen flach. S. hat in seinem ganzen Leben keine einzige Stunde Kunst- oder Musikunterricht erlebt. Zur Kompensation der Wissenslücken wird die Schulausbildung der Schwimmer um zwei Jahre gestreckt, bis sie ohne weiteres mit dem Abitur abschließen können. Danach winken diverse Vergünstigungen – begehrte, den Schwimmsport begleitende Studiengänge zum Beispiel. Man braucht sich als erfolgreicher Kader-Sportlern in der DDR um seine Zukunft keine Sorgen zu machen. Läuft mit den sportlichen Leistungen alles zur staatlichen Zufriedenheit, findet man sich nach dem Goldmedaillenregen in einem bequemen Berufsalltag wieder. Als Trainer, Sportreporter, verdienter Werktätiger des Volkes. Der Führerschein, ein Auto (auf das die anderen vierzehn Jahre warten müssen) eine Gratiswohnungund vieles mehr, kein Problem.
So hätte es gehen können, doch für S. kommt es anders. Während des nachmittäglichen Krafttrainings sind auch Ballspiele vorgesehen. Beim „Arschball“ laufen die Spieler wie Krebse auf allen Vieren, rücklings, mit den Knien nach oben kreuz und quer durch die Halle. Einer der Mitspieler muss die Umherkrabbelnden mit einem Medizinball abwerfen. Hier sind schnelle Reflexe gefragt. Schafft es der Sportler, sich rechtzeitig auf die Seite zu drehen oder den Ball direkt mit einem Kick abzuwehren?
Einer dieser fünf Kilogramm schweren Bälle landet mit voller Wucht auf den Kniescheiben. S. hat ihn nicht kommen sehen. Im Bruchteil einer Sekunde werden die Knie durch den Aufprall nach hinten durchgedrückt. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Der Schaden ist irreversibel. S. kann nun mit seinen verletzten Beinen keine Höchstleistung mehr erbringen. Die Überdehnung der Sehnen ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Er kommt in eine Art Reha-Einrichtung. Man verabreicht ihm Arteparon, ein international noch nicht zugelassenesxArzneimittel aus der BRD, für das die DDR sich als Versuchslabor hergibt. Doch das Mittel zeigt keine Wirkung. An seine früheren Erfolge kann S. nicht mehr anschließen. Bereits nach wenigen Wochen steht fest: Seine Laufbahn als Spitzensportler im Olympiakader der DDR ist damit beendet.
Das System ist Weltrekorde gewöhnt. Der Staat kann ungeahnte Perspektiven bieten oder sie mit einem Schlag zunichte machen. Niemand spricht mit S. über seine Zukunftsaussichten. Es gibt keine Angebote, keine Alternativen. Lediglich das „Abtrainieren“ wird ihm angeraten, damit das seit frühester Kindheit stark vergrößerte Sportlerherz wieder auf das Normalmaß schrumpft. Zu diesem Zweck wird S. in den Schwimmverein der BSG Post Leipzig entsandt. Trainiert wird in dem riesigen Schwimmbecken der DHFK, das so groß wie das Berliner Olympiastadion ist, zusammen mit jeder Menge Typen, die wie er dem Ende ihrer Sportlerlaufbahn entgegentrainieren. Das Neue ist nur, dass sie alle nicht mehr wie früher sich jeden Tag steigern müssen, stattdessen nehmen die Trainingseinheiten allmählich ab. Im Ausgleich dazu gibt es auf einmal regulären Schulunterricht.
So macht das Schwimmen keinen Sinn mehr. Dir meiste Zeit liegt S. in diesem Sommer auf dem Zehn-Meter-Brett und sonnt sich.Ein einziges Mal noch tritt er in einem Wettkampf an: BSG Post Leipzig gegen den Olympia-Kader. Eine flüchtige Genugtuung – Post Leipzig siegt. „Ohne den psychischen Druck“, sagt S, „waren noch einmal, ein letztes Mal, enorme physische Leistungen möglich.“
Danach steht er, siebzehn Jahre alt, vor dem Nichts. Seine Mutter besorgt ihm eine Ausbildungsstelle bei einem Leipziger Polsterer als Innenraumdekorateur. S. ist handwerklich begabt. Dazu kommt, dass ihn die Monotonie des jahrelangen Schwimmtrainings zu einem geduldigen Lehrling gemacht hat. Mit größter Ausdauer kann er die gleichförmigsten Arbeiten ausführen, was sich als großer Vorteil gegenüber seinen Altersgenossen herausstellt. Er schließt seine ersten Freundschaften schließt. S. sucht sich unter ihnen die Unangepassten heraus, die rebellischen, vom Staat enttäuschten Jungs, kurzum Typen wie ihn. Die Wut wächst, und so auch das die Haar. In der „Bar Henrici 5c“ baut S. die Berliner Mauer als Tresen und Wandgestaltung nach, während ihn die Stasi bereits bespitzelt. In seinen Stasi-Unterlagen liest er später, wie kalt es den Inoffiziellen Mitarbeitern im Winter bei der Observierung der staatsfeindlichen Subjekte war. Die armen Kerle froren in Dienstwagen. Die kosten für den Kaffee der Marke Rondo wird akribisch aufgelistet (8,75 M). Ein späterer TAZ-Journalist kreuzt seinen Weg, man mag sich nicht besonders, und doch ist man vereint in Wiederstandsplänen.
Kurz darauf verschwinden die ersten Weggefährten abschiedslos in den Westen. Wie sie das schaffen? Über die grüne Grenze, auf abenteuerlichen Wegen, einer versteckt im Gepäcknetz, einander hinter der Verkleidung der Zugtoilette. Den wenigsten gelingt die Flucht, manch einer sitzt auch schon in der Abschiebehaftanstalt Kassberg, in Karl-Marx-Stadt ein. Den jungen Männern stehen nun die Einberufungsbefehle der NVA ins Haus. Es ist für viele Für seiner Weggefährten der Moment zu drastischen Mitteln zu greifen. Einer schneidet sich mit dem Küchenmesser die Sehnen der rechten Hand durch, ein anderer beschließt, einfach zu Fuß an dem Thüringer Grenzübergang in Richtung Westen zu laufen. Dass eine solche Provokation im Knast enden muss, ist einkalkuliert. Es hat sich rumgesprochen, dass die BRD unliebsame Ostbürger für ein Kopfgeld von 40.000 DM freikauft. Die DDR ist pleite, der Menschenaustausch hat sich inzwischen zu einem schwungvollen Devisenhandel entwickelt.
Als S. seinen Einberufungsbefehl erhält, packt ihn die Idee der Totalverweigerung. Der Dienst an der Waffe steht nicht zur Debatte. Aber auch ein sogenannter Bausoldat (anderthalbjahre Spatendienst) will er nicht werden. Elf Jahre Drill in der Kaderschmiede der Sportelite der DDR sind ihm genug. Keinen Tag länger will er sich mehr gängeln lassen. Er beschließt, sich der Wehrdienst durch Untertauchen zu entziehen. Eine Freundin hat im Erzgebirge, in dem Städtchen Schwarzenberg eine Wohnung, die sie nicht mehr bewohnt. Dorthin zieht sich S. zurück. Unauffällig muss er sich dort bewegen, sich nicht vor den Nachbarn zeigen. In diesen Tagen gibt nichts, rein gar nichts für ihn zu tun. Nach drei Monaten gibt er auf, zermürbt von der Einsamkeit dem Nichtstun.
Dann kehrt er nach Leipzig zurück und es dauert nur wenige Stunden bis er verhaftet wird. Auch der Anwalt Wolfgang Schnur aus Rostock, den er über die Gemeinde der Thomaskirche kennengelernt (und der später als IM enttarnt werden sollte) kann ihm nicht helfen. Nochmals wird ihm angetragen den Wehrdienst anzutreten, wieder bleibt S. bei der Totalverweigerung. Während er in U-Haft sitzt beordert Armeegeneral Kessler, dass der für diesen Jahrgang enorme Pulk von über 250 Totalverweigerern abzuschieben, beziehungsweise an die BRD zu veräußern, um einen noch größeren Ansteckungseffekt zu verhindern. Eines Tages werden S unvermittelt die Ausreisepapiere überreicht. S. hat zwölf Stunden Zeit, eine Tasche zu packen und sich von seinen Freunden und Angehörigen zu verabschieden, dann man ihn nach Berlin. Er sieht den Tunnel des Tränenpalasts und geht seinen Gang in den Westen. Auf dem anderen Bahnsteg wartet ein Leipziger Freund auf ihn. Zweiundzwanzig Jahre alt, steht er auf einmal Nachts im Wedding. Er ist überrascht, diese graue Nachkriegstristesse hätte er im Leben nie mit den bourgeoisen Klassenfeind in Verbindung gebracht. Es folgt das damals übliche Prozedere, eine Woche im Auffanglager Marienfelde und dort die inquisitorische Befragung von Seiten der drei Besatzungsmächte. Und danach? Wieder die Leere.
Wie fasst man Fuß in diesem anderen Deutschland, das so viele Versprechen nicht einlösen kann? Es gibt noch nicht einmal Angebote für die ersten Schritte ins Neuland. Andere begreifen schnell, wie man zu den Vergünstigungen kommt. Ein niedergelassener Arzt im Europacenter zum Beispiel bestätigt umstandslos psychische Defekte und verschreibt Atteste, mit denen sich Sozialleistungsbezüge auftun. Das alles kommt S. unlauter vor. Er schmiert lieber mit einem Kumpel Brötchen, die er abend vor Kinos und Theatern verkaufen will. Doch die Kulturbürger lugen, nach Stunden des Wartens nur misstrauisch auf die Gummiadler – abgelagerte Backwaren, auf denen sich die Salami wellt. Die Jungunternehmer müssen sie nachts in den Mülltonnen entsorgen. Ein Studium könnte helfen, eine neue Perspektive, das ist die Hoffnung. Und so kommt es zur Freundschaft zwischen dem gepamperten West-Mädchen und dem Mann, der aus der Kälte kam.
Wie es weiter ging? Dank der Fertigkeiten die ein Mensch mit sich bringt, der sich der harten Welt des Wettkampfsports und einem totalitären Regime widersetzen konnte, hat sich S. schließlich in die freie Marktwirtschaft geworfen. Gemeinsam mit Freunden eröffnete er Anfang der neunziger Jahre das schönste Restaurant im Osten Berlins, Neue Schönhauser Straße, Der Modellhut. Die Decke des Gastraums war blattvergoldet. Die Ausbauarbeiten hatte Monate gedauert. „ Wie hältst du nur diese stupide Arbeit aus?“ „Das ist doch nichts. Ich hab zehn Jahre meines Lebens lang, jeden Tag vier Stunden lang Kacheln gezählt.“
Diese Geschichte ist keine Gewinnerstory. Sie ist auch nicht die eines Verlierers. Es ist die Erzählung vieler himmelschreiender Ungerechtigkeiten. Das einem auch wirtschaftlicher Misserfolg blühen kann, ist schon das nächste Kapitel. Etwas ganz anderes als der Raubbau, den ein Staat an den Körpern seiner Bürger betrieb. Die Investoren, die in den späten Neunzigern Berlin kaperten, scherten sich nicht um blattgoldverzierte Decken. Sie räumten einfach gnadenlos ab und verwerteten, was Idealisten und Künstler in den vorangegangenen Jahren mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut hatten. So it goes.
So mussten Könner weiterziehen. Einer von ihnen war S. Nun nicht mehr nur körperlich und seelisch – eine Ehe ist inzwischen auch gescheitert, sondern auch finanziell beschädigt. Aber er trug den seine handwerklichen Begabung, der Ausdauer und Hartnäckigkeitin sich. So wird nicht untergehen. Und doch – zu anderen Zeiten hätte dieses Leben ganz anders verlaufen können.
Als begnadeter Innenarchitekt ist er danach gefragt. Dennoch muss er sein Leben wieder im Untergrund führen. Längst sind ihm schon die Gläubiger längst auf den Fersen, als zu einem traumatischen Zwischenfall kommt. Wieder melden sich die Knie, der Sportunfall ist nun auch für seine handwerkliche Leistung abträglich. Aber was ihm dann an einem sonnigen Frühlingstag widerfährt, ist fern aller Prognosen. S. sitzt in der Straßenbahn von Beaulieu sur mer nach Monaco zu seiner Auftraggeberin Madame A, als er sich mit einem Mal nicht mehr vom Sitz erheben kann. Der Körper streikt, ist bleischwer, die Glieder gehorchen ihm nicht mehr. Er sinkt auf seinen Platz zurück und bleibt dort hocken bis zur Endhaltestelle. Man attestiert ihm Rheuma, dazu noch Gicht.
Die Gelenke sind total kaputt. Aber gerade jetzt ist er, als Handwerker auf das Funktionieren eben dieses Körpers angewiesen. Die Führung einer Schlagbohrmaschine ist ihm nun so unmöglich, wie das Umfassen eines Fahrradlenkers bei der Fahrz auf Kopfsteinpflaster. S. ist jetzt Anfang Fünfzig. Der Körper beginnt zu streiken. Die private Krankenversicherung kann er nicht mehr zahlen. Langsam wird es brenzlig. Nach einem weiteren Jahr unter ärztlicher Obhut kommt er in den Besitz eines Schwebeschädigtenausweises. Kann das alles nur Zufall sein?
Zum ersten Mal nach dreißig Jahren fallen ihm die bunten Pillen am Beckenrand wieder ein. Er beginnt zu recherchieren. Seine Zeit als Mitglied des Schwimmkaders ist aktenkundig. Nein, niemand weiß heute mit Sicherheit mehr zu sagen, was für Dopingsubstanzen den Kindern in den Sportschulen der DDR damals verabreicht wurden.Nur dass die jugendlichen Hoffnungsträger damals bewusst vergiftet wurden steht außer außer Frage.
Bis Ende des Jahres 2018 können Regressansprüche an die ehemalige DDR noch geltend gemacht werden. Dann werden auch die Wiedergutmachungszahlungen des zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes eingestellt und dieses Unrechts-Kapitel gesamtdeutscher Geschichte gelöscht. Dreißig Jahre Aufarbeitung müssen genügen.
Suchen Sie sich einen Facharzt, der Ihnen bestätigt, dass Sie einen erheblichen Gesundheitsschaden erlitten haben, welcher in kausalem Zusammenhang mit dem Doping steht, schreibt ihm das Kreiswehrersatzamt auf Nachfrage. S. kann maximal 10.500 € Schadensersatz erwarten.
Ein paar lumpige Kröten, für einen kaputten Körper. Ein Nichts für eine schwer verwundete Seele. Der Beweis, dass lange nichts zusammenwächst, was auf diese schonungslos deutsch-deutsche Weise zusammen gehören soll.
Heiner Funken
der modelhut, und seine (beiden?) betreiber.
habe zur zeit als der modelhut zur gastronomiebaustelle wurde um´s ecke, im schönsten haus der münzstraße, in einer fabrikaetage gewohnt.
habe als nachbarschaftlicher berater (bin bauleiter) die baustelle wohlwollend begleitet. fazinierend war der perfektionismus mit dem, sehr geldverachtend zu werke gegangen wurde. z.b. hat es ewig gedauert bis eine passende tischlerei und eine glaserei gefunden war, die die (gewöbten) fenster und türen des eingangsbereichs bauen konnten. die wandmalerei, vorne links wurde von verschiedenen künstlern dreimal ausgeführt, erst dann war die farbgebung der aneinander und inneinander gefügten rechtecke genehm. decke (blattgold), fußboden, tresen und möblierung wurden hochwertigst gestaltet und gebaut. ähnlich perfektionistisch wurde, als das restaurant eröffnete, gekocht (der service war lausig) dieser perfektionismus war seiner zeit um mindestens ein jahrzehnt voraus und somit waren die gäste zum teil überfordert. der keller, in dem nach jahren des bauens eine (verpachtete?) bar betrieben wurde traf den zeitgeist ziemlich genau, allerdings wohl zu spät. eines tages war der modelhut, ohne vorankündigung geschlossen. meine guten grüße und wünsche sende ich, auf diesem weg meinem ehemaligen nachbar und hoffe, daß es ihm gut geht und er nicht zu sehr mit seinem leben hadert.